DIE SHOW BEGINNT AUF DEM BÜRGERSTEIG
Im „Royal B“ in München fühlen sich Kinobesucher wie im Raumschiff mit Blick aus dem Cockpitfenster.
„Unsere Kinos sind schmutzig, unhöflich geleitet, die Projektion ist entsetzlich“, klagte noch Mitte der Achtziger Jahre Sir Richard Attenborough, der Regisseur von „Ghandi“. Wo waren die prachtvollen Foyers geblieben? Wo die Platzanweiserinnen, die passend zum Filmereignis kostümiert antraten? Wurden die Gefahren der Seefahrt gezeigt, trugen die Damen Marinekostüme. Zur frivolen französischen Komödie geleiteten sie als leichte Mädchen verkleidet ins Dunkel.
Wer die vergangene Kino-Kultur noch einmal erleben möchte, dem sei beim nächsten Paris-Besuch ein Abend im „Grand Rex“ empfohlen. Es thront seit 1932 am Boulevard Poissoniére – nur zwei Straßen von jenem Souterrain, in dem die Brüder Lumiére vor hundert Jahren ihre erste Filmvorstellung gaben, am 28. Dezember 1895. Aus den Wänden des „Grand Rex“ wächst eine orientalische Kleinstadt, erdacht vom amerikanischen Architekten John Eberson: Moscheen mit leuchtenden Kuppeln recken ihre Minarette, Palmen wedeln, Statuen grüßen von hohen Fassaden. Vor der Leinwand plätschern bunte Fontänen, umrundet von einem leuchtenden Art deco-Bogen. Marcus Loew, einer von Ebersons Auftraggebern, erkannte damals: „Wir verkaufen Eintrittskarten für Theater, nicht für Filme“.
Dreihundertzwanzig Kinosäle beherbergt die Stadt des Lichts. Man kann eine japanische Pagode besuchen, die seit 1931 als Kino dient (Rue de Babylone 57). Oder zum Stammkino der Surrealisten auf Montmartre pilgern, zum „Studio 28“ (Rue Tholozé 10). Jean Cocteau und Abel Gance („Napoleon“) hatten es gegründet. Hier erblickte Bunuels „Andalusischer Hund“ das Licht des Projektors, begleitete der begeisterte Kinogänger Maurice Ravel gelegentlich Stummfilme auf dem Klavier.
In Paris und andernorts hat man erkannt, dass Lichtspielpaläste erhaltenswerte Kulturdenkmäler sind. Auch der Kinopalast der Zukunft will auf das Filmerlebnis einstimmen – mit überraschenden Effekten. Während Ebersons Scheinarchitektur die Inhalte der Leinwand um die Sitzreihen herum verlängerte, beginnt nun das Medium selbst den Raum zu erobern.
Die Wiener Architekten-Gruppe COOP Himmelblau macht den Film zum Dekor. Im verglasten Foyer hängen große Leinwände, über die Trailer und Vorfilme laufen – auch von außen sichtbar. Auf dem Weg zum Saal wandert man durch die projizierten Bilder hindurch. Der Tempel des Lichts schickt seine Bilder aus, die nächtliche Stadt zu erobern.
Ins Weltall versetzt das „Ambo 3“ in Stuttgart die Besucher. Computerprogrammiert verlöschen „güldene Sterne“. Der Vorhang verschwindet: Ah, endlich…!
Dank der Werbeunterbrechungen im TV wanderte in der Saison 1993/94 die Rekordsumme von einer Milliarde Mark in Deutschlands Kinokassen: Man konnte investieren. Das heruntergekommene Gabriel 1, Münchens ältestes Lichtspielhaus, wurde nach der Renovierung durch das Architekten-Team Adelmann-Batisweiler wieder zum Familienkino.
Beitrag in Ambiente 11-12/1995
Autorin: Hans Joachim Verhufen
Verlag: Hajo Aropé
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