ZEIT & RAUM

Von den Fünfzigern führt ein gerader Weg in die Achtziger. Wie die Welt, ihre Ordnung und ihr Raumdesign zusammenhängen, zeigt Gisela Sonnenburg.

Alles begann ganz einfach – und draußen: zur Zeit der ersten Campingbooms, in den Zeltlagern der Hippies, im brutto-sozialgesteigerten öffentlichen Raum. Das Lebensgefühl verlangte nach mehr Umgebung als der aus Styropor und Plastiktrash. Siff spielte ins Aus. Eine neue Bewusstheit hielt Einzug. Der Stadtraum lernte: Kneipen wurden Trendsetter, Supermärkte quasi-museale Hallen. U-Bahnhöfe träumten von Erhabenheit, Hotels und Banken mutierten zu postmodernen Enterprise-Stationen. Nicht mehr auf die Optik, auf ihre Message kommt es an. Aber wo finden?

15_03_04-Scan-Foto-1-Beitrag-KULTUR!NEWS-10-1995Ohne Kanten, mit Kunst: die zeitgemäße Arztpraxis.

Ich bin immer auf der Suche.“ Das klingt rastlos. Barbara Adelmann, die mit ihren knapp vierzig Jahren zur tonangebenden Designergeneration gehört, sucht mit Erfolg. Sie betritt als Botschaftsüberbringerin der Interieurs neues Terrain. Denn nicht mehr nur Zapfhahntresen und Parlamentsgebäude wollen bedürfnisgerecht sein, sondern auch jene Orte, an denen sich die Menschheit zum Beispiel im Leiden versammelt: Arztpraxen.

Als der Frauenheilkundler Tobias Lammel sie bat, seine neugegründete Praxis in Petershausen bei München einzurichten, war für Barbara Adelmann ein Gedanke wegweisend: seiner praxisorientierten Medizin räumlichen Ausdruck zu verleihen. Sanften Schwung vermittelt schon die Rezeptionstheke.

Nußfarben, Cremebeige und die Vermeidung herrisch-strenger Neunziggradwinkel vermitteln Geborgenheit, ohne aufdringlich zu sein. „In der Praxis von Dr. Lammel“, enthüllt Adelmann ihr Rezept, „gibt es kaum einen rechten Winkel.“ Die Formen fließen, lassen Abstände zu, auch die Schränke bilden keine Fronten, sondern sind organische Raummitteiler. Nach unten verjüngende Linien erwecken den Eindruck, die Möbel seien leicht und schmiegten sich an. Früher musste eine Praxis weiß, steril und kantig sein, durfte nicht eigentlich „schön“ sein. Adelmann: „Das hat sich geändert. Diese Grenzen lösen sich auf, genau wie in der Realität die Distanz zwischen Arzt und Patient heute nicht mehr so groß ist wie früher.“

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Was haben eine Arztpraxis und ein Kino gemeinsam?

Der Wandel lässt sich sehen. Die neue (Ein-)Richtungsart ist eine Abkehr von Angewohnheiten der Marke „Waschorange lebt!“ Stattdessen stärkt ein Gefühl von Ausgewogenheit und Vertrautheit dem Betrachter den Rücken. So ist das Wartezimmer bei Dr. Lammel, dem Raumempfinden schmeichelnd, vom Empfang abgeschirmt. Die Erfinderin weiß warum: „Durch die mit weißen Punkten bedruckte, aber gläserne Sichtverbindung fühlen sich die Patienten nicht ständig beobachtet, haben aber Blickkontakt zur Sekretärin. Es ist eine halb offene Lösung: nicht nur transparent, aber auch nicht verschlossen.“ Dem Adelmann-Fan Dr. Rainer W. Hauck suggeriert das hochphilosophische Essenzen. Sein Essay über ganzheitliche Verarztung rühmt die „kommunizierenden Schnittstellen“ an den Armlehnen der Sprechzimmerstühle.

Schreckensvisionen von Behandlungszimmern, die an Sezierräume erinnern sind hier jedenfalls gebannt. Lammels Praxis ahmt weder volkstümelnde Stuben nach, noch ein Archiv, in dem der Kassenpatient eine wandelnde Akte ist. Zu schätzen wissen das nicht nur die Patientinnen, sondern auch die dort Beschäftigten: „Wenn ich einen ganzen Tag dort arbeite, dann möchte ich auch in einer schönen, praktikablen Umgebung sein.“ Manche Wege und Arbeitsgänge können darin eingespart werden. Er habe jetzt „mehr Patienten, aber weniger Arbeit“, freut sich Dr. Lammel. Bis in spezielle Arbeitsläufe, aber auch ins ästhetische Detail fühlte Adelmann sich ein. Für künftige Vernissagen in der Praxis wurde Platz gelassen. Bis ein so durchdachtes Projekt realisiert wird, verstreichen manchmal Monate: „Es gibt einen Vorentwurf und einen Entwurf. Bei der Erläuterung stellt sich heraus, ob der Bauherr eine gute Vorstellungskraft hat oder nicht.

Und es gibt auch Änderungen, aber in einem Stadium, in dem sich das noch machen lässt.“ Für Barbara Adelmann, die gerade ihren zweiten Praxenentwurf hinter sich hat, ist jede Aufgabe auch eine künstlerische: „Es reizt mich, mit den Formen zu spielen.“ Aber, so lautet das erste Adelmann-Gesetz: „Es kommt darauf an, wofür etwas gedacht ist. Einfach nur ein neuer Designglanz reicht weder ihr noch ihrer exklusiven Klientel. „Wenn ich mit einem Kunden rede, merke ich, um was für eine Atmosphäre es ihm geht. Das nehme ich erstmal instinktiv auf. Und dann habe ich ziemlich bald im Kopf, was ich machen will. Das ist ein Erspüren und zugleich ein Umsetzen“, beschreibt sie ihre Herangehensweise. Auch, wenn Lichteinfall und –stärken berechnet werden – kalkulierbare Daten stehen nicht im Vordergrund: „Vieles ist Intuition, die man in sich trägt.“ Selbst feste Farbregeln wären unsinnig: „Entscheidend ist: was will man? Will man zurückhaltend sein oder auffallen? Es ist wie mit der Mode.“ Die Bayerin lacht, und während sie eigentlich nur über ihren Job spricht, entwirft sie schon fast eine Weltanschauung: „Ich versuche immer, mich in das Projekt und die Beteiligten hineinzuversetzen. Ich stelle mir vor, wie es auf mich wirken könnte. Würde es mich anziehen und faszinieren?“

Das zur Umsetzung unerlässliche Handwerk lernte die gebürtige Würzburgerin an der Rosenheimer Fachhochschule und im praktischen Möbelbau. Spezifische Fachkenntnisse sind die Voraussetzung ihrer Arbeit. Aus ersten Möbelentwürfen und Ladeneinrichtungen wuchs ihr gesamtraum-bezogenes Denken. Seit fünf Jahren ist die gelernte Bauzeichnerin und studierte Innenarchitektin in München selbstständig. Ihr Stil zeigt jene Eigenart, auf die es bei Markendesignern ankommt.

15_03_04_Atelier-Kino-_-005_x_1024Materialmix: Holzdetails auf Korkboden vor Alu-Vorhang im Atelier-Kino.

Aber auch Vorgaben sind manchmal Anlaß einer Kreation. So in den von Barbara Adelmann gemachten Kinosälen: „Die optischen Aufbauten werden von akustischen Maßnahmen bedingt. „Maßnahmen? – Maßnehmen: Abgerundete Zickzack-Schablonen erinnern ans Fantasyland, verhelfen aber vor allem dem Sound zur Entfaltung. Unter dem Motto „Drachensaal“ steht der 1993 von Adelmann erdachte Zuschauerraum im Münchner „Royal-Palast“. Schon während der Konzeption hatte sie „das Gefühl, sich im Inneren des Skeletts eines riesigen Drachen zu befinden“. Pränatale Assoziationen ergänzt das von Adelmanns Planungspartnerin Anne Batisweiler erdachte Licht: kurz vor Filmbeginn flimmert es wehenartig. Kanonisch zerstiebende Funken bilden ein erlöschendes Feuerwerk. Das „Licht aus/Spot an“-Moment wird so zum Lichtspiel-im-Lichtspielhaus-vor-dem-Lichtspiel. Ob die Werbe- und Hauptfilme soviel Ehre verdient haben?

Im „Atelier-Kino“, ebenfalls in der bayerischen Hauptstadt, versetzt ein komponierter Raumtraum aus honigbraunem Korkboden, schimmernden Alu-Vorhängen und naturwirksamem Holz ins Kinoglück. „Es kommt auf das Zusammenspiel von warmen und kalten Farben an“, erklärt Barbara Adelmann unkapriziös. Cinema ist Wonderland: Das in vornehmes Blaulicht getauchte „Atelier“-Foyer erlaubt einerseits indiskrete Blicke ins Backstage des Kinovorführers, andererseits fangen MDF-Platten die Geräusche auf. Schon die Stoffe, aus denen Adelmann Designträume webt, sind innenarchitektonische Novitäten. Dienen die Lamellen mitteldichter Faserplatten sonst nur verborgen der Dämmung, sind sie hier nach außen gekehrt. Und Kork, sonst jugendzimmerreif, wird ins attraktive Kinolicht gerückt.

„Ich versuche immer, mich in das Projekt und die Beteiligten hineinzuversetzen. Ich stelle mir vor, wie es auf mich wirken könnte. Würde es mich anziehen und faszinieren?“ Barbara Adelmann

15_03_03-Foto-5-KULTUR!NEWS-10-1995_366px1-A-Sound: im Royal-Palast greifen Form und Funktion ineinander.

Solche Tricks sind Ergebnisse von konsequenter Recherche: „Ich halte eigentlich immer Ausschau nach Materialien, egal wo ich bin: Wo ist etwas Neues da oder wo kann ich etwas neu einsetzen, es neu aufwerten, im neuen Bezug setzten? Adelmanns Leitfragen gelten auch bei Möblierungen, Keramik- und Holzeinlagen hat sie als fast vergessenes Dekor-Detail wiederentdeckt: „In den 50ern kannte man sie in Tischplatten, ich verwende sie vielseitig.“ So in der Schmuckboutique, die sie gestaltete und die, weil das Geschäft nicht allzu groß ist, viele Anforderungen auf einmal stellte: „Ich wollte eine Atmosphäre schaffen, die eine Einheit bildet, gleichzeitig aber auf den Schmuck lenkt.“

15_03_03-Foto-6-KULTUR!NEWS-10-1995_1024pxKönigsblau: der kleine Kinosaal im Münchener Royal-Palast.

„Wenn ich etwas plane, versuche ich immer, die Rollen aller Nutzer dieser Räume und Möbel durchzuspielen, also z.B den Besucher, den Kartenverkäufer, den Kinobesitzer, die Putzfrau, den Hausmeister…“ Anne Batisweiler

Eine „Weite mit innerem Zusammenhalt“ schwebte ihr von Anfang an vor. Die Zutaten mussten dann fein aufeinander abgestimmt sein.

Gebrochenes Blau, Lieblingsfarbe der Verführerin-zum-Raumgefühl, bildet die Basis. Blickfang unter den Lampenschirmen aus Filz sind aber die Vitrinen, in denen die Juwelen dargeboten werden. Sie sind, typisch Adelmann, aus einheimischen Edelhölzern gefertigt: „Früher habe ich viel Buche und Multiplexbirke verwandt, sagt die Spürnase der Raummode, „heute bevorzuge ich Apfel-, Birnbaum- und Zwetschgenholz.“ Das zu verarbeiten, zerstört weder den Regenwald noch die Sehnsucht nach Besonderheit.

Der Vitrinen Clou: sie sind geölt und gewachst statt lackiert und versiegelt. „Das riecht ganz anders!“ können Münchner Schmuckliebhaber jetzt schwärmen, und für die nächsten anderthalb Jahrzehnte ist somit das Gefühl Einheit von Kultur und Natur gerettet – eine Interieurepoche lang…

Das sanft behandelte Obstbauholz verkörpert die Adelmannsche Raumphilosophie und bringt selbst die Tüftlerin ins poetische Schwelgen: „Es drückt mehr Gefühl aus, vermittelt eine ganz andere Sensibilität.“ Geöltes Holz gewinnt nämlich im Lauf der Zeit, weil „die Patina lebt“. Dafür ist der qualitative Sprung auch einer im Preisniveau. Obstbaum ist selten und darum zwei- bis dreimal teuerer als die gängige Massivbuche. Dabei ist aber relativ neu, dass es überhaupt angeboten wird. Adelmann erinnert sich an die Anfänge ihrer Karriere: „Oftmals waren im Holzhandel nur drei, vier Sorten Holz zu bekommen.“ Die Entscheidung für das europäische Naturprodukt lässt auf anderes verzichten. In Tropenholz mach sie „nimmer“, sagt Adelmann, und das nicht nur aus Gewissensgründen.

Ihr Raumkonzept verbindet die Ideen von Noblesse und sozialer Verträglichkeit. Nicht umsonst heißt der von Adelmann mit royalblauen Sesseln bestückte “D“ – Raum im „Royal-Kino“ eben so: „Königssaal“. Das Filmtheater als Traumfabrik wiederum trägt jetzt seinen Namen einmal mehr zu recht. So aristokratisch es geht, läßt’s sich in Yves-Klein-blauem Licht, zwischen pflaumenfarbigen Wandverkleidungen thronend, Popcorn schmatzen und in Prinzenköpfe versetzen. Weil in jedem aufrechten Demokraten auch ein kleiner Ludwig-der-Soundsovielte steckt.

Mittels Raumgestaltung Politik zu betreiben, ist nicht neu. Feudale Schloßkunst zielte auf die Betonung „gottgegebener“ Hierarchien, herkömmliche Bürokomplexe setzen auf die Demonstration wirtschaftlicher und verwaltungstechnischer Macht. Die Propagierung softer, demokratischer Werte – Klarheit, Durchsicht, Weite – ist erst seit kurzem en vogue. Sie spielt auch für Barbara Adelmann eine besondere Rolle: „Ich bemühe mich eigentlich immer um Weite. Wenn wenig Platz da ist, muß ich das Optimum herausholen.“ Neobarock ist ihre Sache nicht: „Es gibt bestimmte Kollegen, die das anders sehen, aber ich denke: Weniger ist mehr. Bilder und Möbel brauchen einen gewissen Raum, um zu wirken.“ Eine großzügige Gestaltung, sparsam eingesetztes Mobiliar und eine kleine Illusion von Schutz kennzeichnen die Linie der 90er, wie Adelmann sie kreiert.

Prägend und inspirierend, bekennt sie ist dabei „die Zeit, in die ich geboren wurde“. Zitate aus den Roaring Fifties mit ihren beuligen Vasen, Eistütenleuchten und Nierentischchen nennt jeder Adelmann-Raum. Allerdings wird der Stil der zaghaften Neuansätze nicht kopiert, sondern um- und verwandelt, bisweilen auch verfremdet. So, wenn das Möbelstück mit Stahlblenden gepeppt ist. Raumerlebnisse als Zeitzeichen: Es scheint kein Zufall, dass man heute von den einst als bieder geschmähten 50ern lernt. Das Ende des Kalten Kriegs ist ebenso ein historischer Einschnitt wie das Jahr 1945. Hatte man damals die Nase voll von den architektonischen Blähungen der frühen 40er Jahre, liegen uns heute die eckigen 80er quer im Magen. Die Welt und ihre Ordnung werden neu überdacht – auch innerräumlich. Die vergangene Dekade markiert den Übergang vom Blümchenkult der 70er zur neuen Sehnsucht. Proletarisch-rustikal orientierte Elitedesigner wie Philippe Starck, aber auch asketische Strenge gehören nunmehr der Vergangenheit an. Von Tokio bis New York, von Berlin bis Castrop-Rauxel tummeln sich zwar noch die Lift-up-Metaphern der Eighties. Aber jetzt löst eine fast romantische Freude an sanften Formen das Wuchtige ab.

Die Generation von Barbara Adelmann besinnt sich auf das, was ihr die Adenauerära an Werten nolens volens einhauchte: die Relationen und Proportionen müssen stimmen, und manchmal geht’s halt auch’ne Nummer kleiner, weil Masse statt Klasse frustriert. Das neue Design, das die 90er noch rechtzeitig vor der Jahrtausendwende als Neo-Fifties ausruft, lässt Traumraum für gedankliche Tänze und feinziselierte Intarsien. Demokratische Raumgefühle sind in. Aber ein bisschen Hoheit darf ruhig sein in rauen Zeiten.

 

 

Beitrag in KULTUR!NEWS 10/1995
Autorin: Gisela Sonnenburg
Verlag: Bunk Verlagsgesellschaft mbH
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