Kino(t)räume
Weltraumatmosphäre und Zauberbäume, Kupferkronen und schwebende Spiegel – verspielte Gestaltung und Funktionalität müssen sich im „Erlebnisraum“ Kino nicht ausschließen. Gute Beispiele stehen hier im Rampenlicht.
Vor rund 200 Jahren trafen schockierte Architekturkritiker eine Entscheidung: Angesichts der ausufernden Orient- und Exotismus-Mode differenzierten sie zwischen „ernster“ Baukunst und Gebäuden „weltlich heiteren Charakter“. Die ernste, an der Antike orientierte Sprache blieb Rathäusern, Gefängnissen, Gerichtsgebäuden, Museen und ähnlichem vorbehalten. Eine ausschweifende, von Arabesken geprägte Gestaltung fand sich dagegen vor allem in Kaffee-, Garten- und Herrenhäusern, in Moscheen und türkischen Bädern.
Die damals gültigen Maßstäbe könnten auch heute noch hilfreiche Dienste leisten: Mit ihnen fiele es leichter, Erlebnisbäder, Freizeitzentren, Musical-Theater oder Kinos als das zu betrachten, was sie sind, nämlich Unterhaltungsarchitektur. Und die dürfte eben spektakulärer sein als beispielsweise die einer Fabrik. Die klassische Moderne des Bauhauses hat und jene Einteilung vergessen lassen. Ihre Protagonisten predigten “form follows function“ – mit der Folge, dass Mies van der Rohes Berliner Neue Nationalgalerie auch eine Sporthalle sein könnte (und sogar als solche nutzbar wäre). Kinosäle wurden ihrer Funktion entsprechend auf feuerbeständige Decken, Mindestraumhöhen und minimale Sitzreihenabstände reduziert – so zu lesen in der „Bauentwurfslehre“ des Gropius-Schülers Ernst Neufert von 1936, einer Art Bibel des Planungsarchitekten.
Als Vorbereitung aufs Eintauchen in phantastische Welten erscheinen diese Kriterien heute jedoch etwas öde, und sie reichen vor allem nicht mehr aus, um Säle zu füllen. Eine neue Generation von Lichtspieltheatern bietet dem Besucher mittlerweile schon vor dem Spektakel auf der Leinwand visuelle Erlebnisse.
So hat das Münchner Planungsbüro von Barbara Adelmann und Anne Batisweiler für die Ausstattung von Kinosälen eine spezielle Strategie entwickelt. In zehn, meist umgebauten Sälen, wurde sie schon erprobt. Bei diesem Konzept soll der Zuschauerraum einen Vorgeschmack auf die illusionäre Ebene des folgenden Films geben. Das ist freilich nicht so zu verstehen, dass die Saalarchitektur vor einem Fantasy–Film martialisches Säbelrasseln, vor einem Sciencefictionfilm visionäre Narreteien und vor euer Romanik-Schmonzette rosa Schleifchen präsentiert. Derartige Phantastereien vermeiden die beiden Innenarchitektinnen. Sie gestalten jeden Kinosaal unter einem Motto, das sich an den Anforderungen und räumlichen Konstanten orientiert. Zum Beispiel den Saal B des „Royal“-Kinos am Goetheplatz, das „Raumschiff“. Der Raum hat bereits eine konische Form. Um den Eindruck einer Raumkapsel zu verstärken (die ja selten mit rechten Winkel aufwartet) haben die Architektinnen die Wandpaneele aus der Vertikalen gekippt – sie ragen nun schräg nach oben. Die Stoßfugen der dunkelblau gebeizten Akustikpaneele folgen nicht der Vertikalen, sondern stehen senkrecht zur nach vorn steigenden Ebene der Sitzreihen. Bautechnischer Sinn: Verkleidungselemente lassen sich so auch ohne Verschnitt wirtschaftlich einsetzen. Die Lautsprecherboxen ordnen sich dieser Struktur unter, da sie in die Paneele eingelassen sind. Um so stärker fallen die benachbarten Nischen aus dem Rahmen, in denen sich die indirekte Beleuchtung befindet. Schief, mit bizarren Grundflächen, scheinen sie einzig die Lust an Schrägen zu demonstrieren. Aber auch dahinter steckt die Idee, den Eindruck von Schwerelosigkeit zu vermitteln. Die Sternenkonstellationen oben und unten sollen den Raumschiff-Effekt verstärken.
Monströs verkleidete Deckenbalken und schräge Wandpaneele: Das „Raumschiff“, der Saal B des Münchner „Royal“-Kinos. An der Decke schwebende Spiegel und schiefe Fenster verstärken den Eindruck von Schwerelosigkeit, in der alles durcheinander wirbelt.
Im Saal 2 des „Atelier“-Kinos gibt es statt des Vorhangs Metallgitter. Wenn der Film beginnt, ändert sich die Beleuchtung, und die Gitter schieben sich zur Seite.
Decke und Vorhang im „Drachensaal“ des „Royal“-Kinos haben zackige Formen. Giftgrüne Leuchten und Konstruktionselemente an den Wänden setzen weitere Akzente.
Der „Königssaal“ des „Royal“-Kinos hat natürlich königsblaue Sessel und kupferfarbene Krönchen als Wandleuchten.
Eine Variation des Themas „Weltall“: Saal 3 der „Ambo“-Kinos in Stuttgart. Hinter gold eloxierten Lochblechschalen liegen Lampen und Lautsprecher.
Auffällig ist bei aller Phantasie die Kombination von Form und Funktion. Arabeskenhafte Dekorationen schätzen die Entwerferinnen nicht. So dienen die kleinen Parabolspiegel an der Decke dazu, das Licht der auf den Wandfugen befestigten Strahler auf die blauen Sitze umzulenken. Die dunklen Schatten an der Decke verstärken den schwebenden Charakter der Aluminiumspiegel, und die einfach zu erreichenden Strahler erleichtern (und verbilligen) das Auswechseln der Leuchtmittel. Die Idee, gestalterische Dynamik zu produzieren, folgt auch der riesige Propeller an der Saalrückwand, zwischen den beiden Fenstern des Bildwerferraums. Von hinten blinkende Tubelights suggerieren eine rotierende Bewegung. Gegenüber, unterhalb der Leinwand, passt sich ein riesiger orange-blau changierender „Kühlergrill“ der dynamisch-symbolischen Formensprache an. Dieses Luft-Einlaßgitter verbirgt eigentlich die Klimaanlage, durch die hinter dem Bühnenträger versteckten Strahlen wird es zum farbigen Lichtgebilde. Wenn der Film beginnt, scheint es abzuheben und gibt den Blick wenn nicht in die „Weite des Alls“, zumindest in die Welt der cineastischen Illusion frei.
Nur ein Detail in diesem Saal ist reine Show: Die Verkleidung der riesigen Unterzüge, die den Raum durchschneiden. Die monströs geschwungenen Verkleidungselemente, die wie überdimensionale Lautsprecher wirken, verleihen dem Saal einen futuristischen Touch wie in einem Space- Shuttle. Außerdem binden sie die klotzigen Betonbalken geschickt in die Gestaltung ein. Das verwendete Streckmetall bot sich wegen seiner groben, halbdurchsichtigen Struktur als Material an. Im „Drachensaal“ desselben Kinos ließen sich Batisweiler und Adelmann von dem dicken Stützen, Unterzügen und wiederkehrenden Nischen inspirieren. Das Gefühl, sich im Inneren eines riesigen Reptils zu befinden, nahm ästhetisch Gestalt an. Sämtliche Elemente des Saals sind in grellen Grüntönen gehalten. Der Vorhang erhielt schillernde spitze Zacken, die auf dem Seetang-grünen Textil wie Schuppen wirken, und die Zick-Zack-Form der Decke erinnert an Reptilienhaut. Die unregelmäßig verteilten Beleuchtungskörper bestehen aus Lochblechhalbkugeln, aus denen grünes Licht strahlt. Giftdrüsen, Warzen oder feuerspeiende Drachen-Nüstern sehen so ähnlich aus: zum Fürchten.
Weniger gefährlich wirkt der mit royalblauen Sesseln ausgestattete „Königssaal“. Hier fallen besonders die perfekten Details ins Auge, die den majestätischen Eindruck unterstützen. Mit echten Nagelbeschlägen wurden sowohl die Samtpolsterung auf den Türen als auch die dünnen Kupferstreifen auf der pflaumenblauen Wandbespannung montiert. Von Spotlights illuminierter Kupferkronen und -blechen an der Decke komplettieren spielerisch das noble Ambiente.
Nur ein knappes Budget stand für die Gestaltung des Saals 2 im (ebenfalls Münchner) „Atelier“-Kino zur Verfügung. Die beiden Architektinnen entwickelten das Konzept aus der Wahl preiswerter Materialien, die sie in einen „Warm-Kalt-Kontrast“ setzten. Blickfang ist der Bühnen- „Vorhang“, der aus einem Aluminium-Streckgitter besteht. Vor Beginn der Filmprojektion präsentiert er sich metallisch glänzend und undurchsichtig, weil er von vorn beleuchtet wird. Wenn sich die Elemente öffnen, werden die hinter der Verkleidung befindlichen Scheinwerfer langsam hochgedimmt. Dadurch wird das Gitter durchsichtig und gibt den Blick auf die Leinwand frei, bevor sie schließlich ganz zu sehen ist.
Im Zuschauerraum dominieren warme Farben und Materialien wie grüner Stoff, honigbrauner Kork und dunkles Linoleum. Sperrholzelemente mit ellipsenförmigen Öffnungen, die teilweise mit grünem Plexiglas ausgefüllt sind, setzen Akzente. Zu „Zauberbäumen“ werden die durchlöcherten Bretter mittels beweglicher, engstrahliger Spots: Diese bringen Lichtellipsen auf den Wänden zum Wandern.
Eine Variation in Gold, Orange und Sonnengelb des Themas „Weltall“ ist der Saal 3 der Stuttgarter Ambo Kinos. Hinter riesigen, gold eloxierten Lochblechschalen verbergen sich Lampen und Lautsprecher. Der Besucher soll den Eindruck haben, er säße inmitten von Sonne, Mond und Sternen.
Bei all diesen Ausstattungen lässt sich die Nähe zur Filmarchitektur nicht verleugnen. So mancher Kinosaal könnte ja bereits als Kulisse für einen Film dienen. Verwunderlich ist dies nur auf den ersten Blick. Wer weiß, dass Anne Batisweiler seit 1991 einen Lehrauftrag im Studiengang „Szenografie“ im Fachbereich Innenarchitektur der Fachhochschule Rosenheim hat, der weiß, wie es zu den Inszenierungen kommt.
Beitrag aus designreport 10/1995
Autor: Joachim Goetz
Verlag: MACup Verlag GmbH
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